Der geplante (Das Leben ist das was passiert, während man Pläne macht. Auch und gerade bei der Bahn.) Abfahrtszeitpunkt des Zuges nähert sich. Gleichmäßig sammeln sich diverse unterschiedliche Menschen auf dem Bahnsteig.
Viele mit einem Pappbecher Kaffee, den sie an einer der Buden oberhalb der Gleise völlig überteuert gekauft haben. Viele auch mit einer Zigarette. Wir sind in Deutschland. Hier herrschen Recht und Ordnung. Vor allem Ordnung. Die allermeisten Raucher drängeln sich innerhalb oder unmittelbar neben der mit gelber Farbe auf den Boden gemalten Raucherzone.
(Aber diese Raucherzonen…was soll man sagen – als würde man in einem Schwimmbecken eine Ecke für Leute die ins Wasser pinkeln, markieren.)
Es wird wenig geredet. Die Leute trinken, rauchen, warten. Neben mir radebrecht ein Mitbürger mit Migrationshintergrund energisch in sein Headset.
Der Zug kommt.
Sofort trennt sich die Spreu vom Weizen.
Wir auf dem Bahnsteig wollen mit diesem Zug wegfahren. Da sind aber nun auch Leute drin, die aussteigen wollen. Und zwar nicht wenige.
Die Logik wie auch die gute Erziehung und eine allgemeine Vernunft gebieten jetzt, die Türen frei zu halten damit die Leute aussteigen können.
Vor fast jeder Tür stellen sich aber mit gehetztem Gesichtsausdruck Leute auf, um auf jeden Fall ganz schnell einzusteigen. Das finden die die raus wollen, nicht so gut und es gibt ein bisschen Gedränge.
Ich stehe neben meiner Tür und beobachte den Typ ‘ältere Dame’.
Sie gehört zu denen die rein wollen, bevor die anderen draußen sind. Sie könnte auch vom Typ ‘herrische alte Dame’ sein, dazu hat sie aber einen zu besorgten Gesichtsausdruck. Sie fährt nicht oft Bahn und will auf jeden Fall sicher stellen, dass dieser Zug nicht ohne sie abfährt.
Die Welle der aus dem Wagen quellenden Leute bricht sich an ihr. Sie sind allesamt zu vernünftig, die ältere Dame ernsthaft zu schubsen oder verbal anzugreifen. Böse Blicke sind das Maximum.
Sie hat dafür aber keine Aufmerksamkeit übrig. Sie muss doch diesen Zug betreten bevor er abfährt! Und das wird er, wenn sie nicht bald da rein kommt. Wenn die Leute bloß mal Platz machen würden!
Als alle die raus wollen draußen sind, klettert sie mit ungeahnter Geschwindigkeit in den Wagen und wirft sich auf den ersten freien Platz. Gerade nochmal gut gegangen! Während der Fahrt stehen müssen – ein Horrorszenario. Die Knie!
Die anderen Reisenden kommen hinterher und jeder findet einen Platz. Tatsächlich ist mindestens ein Viertel der Sitzplätze im Wagen leer.
Die ältere Dame fummelt ein winziges Handy aus ihrer Tasche. Bevor ich mich fragen kann, wie das Problemfeld nachlassende-Sehschwäche contra kleine-Buchstaben-auf-schlecht-ablesbarem-Display bewältigt wird, zückt sie auch schon eine Lesebrille. Mit spitzen Finger wird eine Nummer gewählt und gleich darauf erfahren der Gesprächspartner wie auch alle anderen Mitreisenden, dass die ältere Dame jetzt im Zug sei und sich nochmal melden werde.
Handy und Brille verschwinden wieder, die ältere Dame mustert das zugegebenermaßen etwas abgewohnte Interieur des Zuges. (Man kann sich bei diesen ollen Dingern im Regionalbahn- und Regionalexpressdienst mitunter des Eindrucks nicht erwehren, dass damit schon des Kaisers Infanterie nach Verdun gefahren wurde.)
Mir gegenüber sitzt der Typ ‘Businesskasper’. Der bahnreisende Businesskasper lässt sich in zwei Gruppen einteilen. Älterer und jüngerer Businesskasper. Der jüngere Businesskasper ist gemeinhin der nervigere. Er hat auf jeden Fall ein Notebook dabei. Und ein Blackberry. Er benutzt beides gleichzeitig und macht hier den Eindruck, als wäre er sich des Vorhandenseins des Mobiltelefons nicht bewusst – der Gesprächspartner in Kalkutta könnte ihn auch ohne das Gerät hören. Hat er ein Headset, drückt er mit einer Hand (die andere am Notebook) auf den Tasten des Blackberrys herum.
Er hat meistens über Gebühr gegelte Haare (KTzG lässt grüßen), einen Anzug von der Stange und ist schrecklich wichtig.
Bei älteren Businesskaspern lassen all diese grotesken Auswüchse nach, in Einzelfällen hat aber auch der ältere Businesskasper nichts von seinem Reifeprozess mitbekommen und gebärdet sich wie einer seiner jungen Kollegen. Und umgekehrt. Regeln, Ausnahmen.
Auf der anderen Seite des Wagens haben sich die beiden Pendlertypen gefunden. Das Alter ist hier relativ egal. Sie unterscheiden sich nur durch ihr Verhalten. Typ A ist quasi noch im Bett. Er ist am Vortag mal wieder viel zu spät schlafen gegangen und dämmert jetzt seinem Job entgegen. Den Kopf seitlich gegen das Fenster gelehnt, entgleitet ihm hin und wieder der überteuerte Becher Kaffee und saut im besten Fall nur den Boden, im schlechteren Fall aber auch seine Hose ein. Er wacht immer rechtzeitig auf, um seine Station nicht zu verpassen.
Typ B hingegen ist wach. Er hat eine Zeitung/Zeitschrift oder ein Buch dabei. Vielleicht auch einen Kaffee – aber nicht um sich wach zu halten. Er liest bis zur letzten Sekunde, wenn alle anderen schon aussteigen. Kommt aber immer noch rechtzeitig aus dem Zug raus.
An meinem einzigen Zwischenhalt steigen ein paar SchülerInnen ein. Neben ihrem Alter, an der unzulänglichen Kleidung zu erkennen. Unzulänglich in zwei Kategorien.
Bei den männlichen Vertretern hängen die Hosen fast durchweg auf Knöchelhöhe. T-Shirts sind drei Nummern zu groß, Kappen sitzen ‘auf’ dem Kopf. Und zwar so, dass sie leer sind. Der leiseste Windhauch scheint diese Kopfbedeckungen mitnehmen zu können. Was allerdings nie passiert. Warum, ist mir völlig schleierhaft. Die Jungs sehen also aus, wie debile Gangster.
Die Damen dazu sind (mindestens in Zeiten, in denen man sich gemeinhin warm einpackt) ebenfalls unzulänglich bekleidet. Dünne Jäckchen die kaum bis zu Taille reichen, noch dünnere Leggins, Stoffturnschuhe (vorzugeweise bei 30 cm Schnee).
Weiter hinten im Wagen sitzen ein paar ernsthafte Studenten beieinander. Dicke Taschen und/oder Rucksäcke mit herausschauenden Leitz-Ordnern (8cm). Fast immer stöpselige Kopfhörer. Die Herren in ihrer Kleidungsevolution ziemlich weit vom Status ‘Schüler’ entfernt, die Damen oft nicht.
Außerdem gibt es noch die weniger ernsthaften Studenten. Die sitzen mit überteuertem Kaffee und einem Stapel loser und offenkundig gut vermischter Papiere rum und machen den Eindruck, dass sie von der letzten Party noch ein gutes Stück unter dem Einfluss von Alkohol und Tetrahydrocannabinol stehen. Die Papiere scheinen mehr Alibi zu sein und werden zwar festgehalten aber ansonsten keines Blickes gewürdigt.
Bei der nächsten Station steige ich aus. Mit mir ein Schwung voll Pendler beider Typen, sowie allerhand SchülerInnen. Am Bahnsteig wartet genug Ausgleichspersonal.
Die ältere Dame wird noch ein paar Mal ihre Zielperson anrufen um lautstark durchzugeben, wo sie denn gerade sei und dass es noch dauern würde. Sie wird später die erste sein, die (viel zu früh) aufsteht und sich an der Tür postiert, damit sie den Zug am Zielort auf jeden Fall noch verlassen kann, bevor er weiterfährt. Eine drohende Gefahr, die es abzuwenden gilt.